„Ein Land ist so fortgeschritten wie seine Frauen“ Mahatma Gandhi
Denkt man an die Stellung der Frau in Indien gehen einem unter Umständen gänzlich unterschiedliche Gedanken durch den Kopf. Sie reichen von der traditionellen Witwenverbrennung bis hin zum maßgeblichen politischen Einfluss einer Indira Gandhi. Diese beiden extremen Pole machen wieder einmal die Zerrissenheit des Subkontinents zwischen seinen tiefen religiösen Wurzeln und seiner modernen demokratischen Ausrichtung deutlich. Die Praxis der Witwenverbrennung – welche durch unterschiedliche Stellen in den Veden und anderen heiligen Schriften legitimiert ist – wurde zwar bereits 1829/30 in Britisch-Indien untersagt, doch kommt es bis in die jüngste Vergangenheit zu belegten Fällen dieser Tradition. Dies macht auch heute die soziale Stellung der Frau in der sozialen Hierarchie der indischen, hinduistisch-patriarchalisch ausgestalteten Gesellschaft deutlich: Die Ehefrau hat nach dem Tode des Mannes keine Lebensgrundlage- und/oder Berechtigung mehr! Auch andere Schriften wie der Manu bewerten die Frau als Menschen zweiter Klasse. Sie ist stets abhängig von einem Mann – zuerst von ihrem Vater, dann von ihrem Ehemann und zuletzt von ihren Söhnen.
Glücklicherweise nimmt die beschriebene Praxis im modernen Indien keine dominierende Bedeutung mehr ein; nach dem Gesetz sind Mann und Frau gleichgestellt. Sie haben gleiches Recht auf gleichen Lohn und gleiche Ausbildung, der Mitgiftzwang ist aufgehoben, bezahlter Mutterschaftsurlaub eingeführt. Kinderehen und Bigamie sind verboten, das gleiche Recht auf Scheidung eingeführt. Allerdings sind diese Maßnahmen noch nicht überall in den Köpfen der traditionalistisch eingestellten Gesellschaft angekommen – sie durchzusetzen bedarf eines tiefen Bewusstseinswandels, welcher vermutlich einige Generationen in Anspruch nehmen wird.
Dass dieser Wandel bereits begonnen hat, ist in unterschiedlichen Gründen zu suchen: die wirtschaftliche Öffnung des Landes, der zunehmende Einfluss der Medien und die Herausbildung einer immer größeren Mittelschicht mit mittlerweile etwa 300 Millionen Menschen. Väter dieser Gesellschaftsschicht beteiligen sich aktiv an der Kindererziehung und billigen ihren Ehefrauen – und später Töchtern – einen akademischen Bildungsgang und das Ergreifen eines Berufes zu. Nichtsdestotrotz kommt der Frau, heute wie vor 2000 Jahren, in erster Linie die Rolle der Hausfrau zu, welche sich um die Familie sorgt und den Haushalt führt. Auf dem Land ist die Situation, durch den geringeren westlichen Einfluss, erwartungsgemäß noch weniger fortschrittlich. Dörfer und ihre Gesellschaften sind außerdem stärker traditionell geprägt und lassen Veränderungen wesentlich langsamer zu als Metropolen.
Auch heute ist es für viele Frauen der Mittelschicht vorrangiges Ziel, durch die ihr offen stehende gute Bildung und Karriere eine wohlhabenden Ehemann zu finden – ein Blick in den Heiratsmarkt einer indischen Tageszeitung mit seinen vielen Seiten, auf denen die heiratsfähigen Frauen angepriesen werden, macht diese Situation sehr deutlich. Viele Frauen sehen ihr Leben als erfüllt an, wenn sie eine perfekte Tochter und später eine treusorgende Ehefrau sind, welche in Schule und Beruf erfolgreiche Kinder hervorbringt.
Insgesamt haben Frauen und Mädchen im heutigen Indien – insbesondere wenn sie aus der städtischen Mittelschicht stammen – deutlich bessere Chancen, eine soziale Stellung zu erlangen, die ihren Müttern und Großmüttern völlig unmöglich war. Doch darf dies nicht davon ablenken, dass auch heute Ausbildungs- und Alphabetisierungsgrad von Frauen wesentlich niedriger als bei Männern ist, dass gezielte Abtreibung innerhalb von zwei Jahrzehnten zum Fehlen von etwa 10 Millionen Frauen geführt hat. Es bleibt also noch einiges zu tun, um die Gleichstellung vor dem Gesetz mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, doch muss man einem so riesigen Land mit seinen uralten Traditionen sicher eine gewisse Zeit der Transformation zugestehen, welche ja auch Westeuropa nicht von heute auf morgen vonstatten ging.[ad]